Dienstag, 5. Juni 2007

Dorothy Garrod: Die Expertin für die Altsteinzeit

Leseprobe aus der CD-ROM „Superfrauen: 14 Bücher auf einer CD-ROM“ des Wissenschaftsautors Ernst Probst



Eine der bedeutendsten Prähistorikerinnen Großbritanniens war Dorothy Garrod (1892–1968). Sie gilt als die erste Frau, welche die Altsteinzeit (Paläolitikum) und das Leben der frühen Menschen erforschte. Ihr gelangen bei Ausgrabungen in Europa und Asien bedeutende Entdeckungen aus der Altsteinzeit. Außerdem erforschte und benannte sie eine Kulturstufe der jüngeren Altsteinzeit (Jungpaläolithikum) in Europa und eine Kulturstufe der Mittelsteinzeit (Mesolithikum) in Palästina.

Dorothy Garrod kam am 5. Mai 1892 als eines von vier Kindern einer Arztfamilie in London zur Welt. Ihr Vater arbeitete am St. Bartholomew’s Hospital, erforschte die angeborenen Fehler von Stoffwechselkrankheiten und gilt als einer der Entdecker der biochemischen Vererbungslehre. Ihre Brüder Noel und Tom starben als Soldaten im Ersten Weltkrieg (1914–1918), ihr jüngerer Bruder Basel erlag 1919 an Influenza (Grippe).

Zunächst besuchte Dorothy Garrod eine kleine Privatschule. Danach beschloss sie, obwohl sie sich für viele Wissensgebiete interessierte, Geschichte zu studieren. Sie bestand die Aufnahmeprüfung für die „Birklands School“ in Newnham, die sie von 1913 bis 1916 besuchte.

Während des Ersten Weltkrieges lebte die Familie Garrod auf Malta. Dort sah sich Dorothy zu Ostern einmal die jungsteinzeitlichen Tempelausgrabungen des Archäologen Temi Zammitz (1864–1935) an und gewann rasch einen Eindruck von mediterraner Prähistorie. Nun hatte sie ihre Berufung gefunden. Nach Kriegsende kehrten die Garrods nach England zurück.

1921 begegnete Dorothy Garrod in Oxford dem Wissenschaftler Robert Ranulph Marett (1866–1943), der sich auf die Religion der frühen Menschen spezialisiert hatte. Sein Enthusiasmus übertrug sich auf Dorothy, die er mit den berühmten französischen Prähistorikern Henri Breuil (1877–1961) und Henri Graf Bégouën (1863–1956) in Verbindung brachte.

Nach ihrer Auszeichnung mit dem „Diplom für Anthropologie“ in Oxford konnte Dorothy Garrod dank der „Mary Ewart Travelling Scholarship“ ab 1922 unter Henri Breuil am „Institut de Paléontologie Humaine“ in Paris arbeiten. Während dieser Zeit freundete sie sich mit Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) an, der damals asiatische Skelette untersuchte.

Einer Anregung von Henri Breuil folgend, untersuchte Dorothy Garrod von 1925 bis 1927 das Felsdach „Devil’s Tower“ auf Gibraltar. 1926 barg sie dort etwa 50000 Jahre alte Schädel- und Kieferreste eines jugendlichen Neanderthalers. Im selben Jahr erschien ihr Werk „The Upper Palaeolithic in Britain”.

Im Januar 1928 ging Dorothy Garrod nach Palästina. Dort untersuchte sie die Skubah-Höhle im Wadi An Natuf (Westjordanland) und entdeckte Zeugnisse einer Kulturstufe, die sie später (1957) als „Natufien“ bezeichnete. Das zwischen dem 10. und 8. Jahrtausend v. Chr. in Palästina verbreitete „Natufien“ repräsentiert den bruchlosen Übergang zwischen später Altsteinzeit und früher Jungsteinzeit (Neolithikum). Nach der erfolgreichen Untersuchung der Skubah-Höhle in Judäa und einer Expedition in Kurdistan fungierte Dorothy Garrod als Leiterin der Ausgrabungen im Karmelgebirge.

Auch in einigen der Höhlen an der Westseite des Karmel gelangen Dorothy Garrod Aufsehen erregende Entdeckungen: In der Höhle „Mugharet et-Tabun“ („Backofenhöhle“) fand sie unter anderem das etwa 41000 Jahre alte Skelett einer Neanderthalerin und in der Höhle „Mugharet es-Skuhl“ („Ziegenhöhle“) sogar zehn zwischen 100000 und 80000 Jahre alte Skelette von Urmenschen, die von fünf Männern, zwei Frauen und drei Kindern stammten.

1938 führte Dorothy Garrod den Begriff „Gravettien“ für eine Kulturstufe der Altsteinzeit zwischen etwa 26000 und 19000 v. Chr. ein. Diese Bezeichnung beruht auf der Halbhöhle „La Gravette“ bei Bayac im französischen Departement Dordogne. Das „Gravettien“ war in Spanien, Frankreich, Italien, Belgien, Deutschland, Österreich, in Tschechien und in Russland verbreitet.

Die Menschen im „Gravettien“ wohnten – nach heutigen Erkenntnissen – meistens im Freiland in Zelten und Hütten und suchten nur zeitweise Höhlen auf. Nach ihren Jagdbeuteresten zu schließen, haben sie vor allem Mammute, Rentiere und Wildpferde zur Strecke gebracht. Gelegentlich erlegten sie auch Höhlenbären, Wölfe und Eisfüchse. Als einzige Waffen standen ihnen Stoßlanzen und Wurfspeere zur Verfügung.

Zu den berühmtesten Funden aus dem „Gravettien“ in Mitteleuropa gehört die 1908 entdeckte und im „Naturhistorischen Museum Wien“ aufbewahrte etwa 25000 Jahre alte „Venus von Willendorf“ aus Niederösterreich. Dabei handelt es sich um ein 10,3 Zentimeter hohes Kunstwerk aus Kalkstein, das eine nackte Frau in aufrechter Haltung, mit rundem Kopf, Hängebrüsten, Spitzbauch, stark betonten Genitalien, dickem Gesäß und breiten Oberschenkeln darstellt.

Die Universität Oxford verlieh Dorothy Garrod für ihre Publikation „The Stone Age of Mount Carmel“ (1938) den akademischen Grad „Doctor of Science“ („Doktor der Wissenschaften“). Von 1939 bis 1952 wirkte sie als „Professorin für Archäologie“ in Cambridge. Sie war die erste Frau, die in Cambridge Professorin wurde.

Während der Zeit des Zweiten Weltkrieges (1939–1945) stagnierte die wissenschaftliche Arbeit in Cambridge. Dorothy Garrod arbeitete von 1942 bis 1945 für den „Photographic Intelligence Service“ und lebte in Medmenham. Dabei machte sie wertvolle Erfahrungen bei Luftaufnahmen archäologischer Fundstellen, worauf sie später die Luftbildarchäologie förderte.

Ab 1949 leitete Dorothy Garrod das „Department für Archaeology and Anthropology“ in Cambridge. Im Alter von 60 Jahren schied sie 1952 nach beträchtlichem Bedenken aus ihrem Amt aus. Sie baute ein kleines Haus in Chamtoine (Frankreich), widmete sich eigenen Forschungen und verbrachte den Winter jeweils in Paris. Ihre Gesundheit verschlechterte sich 1965 merklich. Im Hospital war sie wegen ihrer unkomplizierten Art sehr beliebt.

Die wissenschaftliche Arbeit von Dorothy Garrod ist mit zahlreichen Auszeichnungen gewürdigt worden. Im April 1968 war sie die erste Frau, die die Goldmedaille der „Society of Antiquaries of London“ entgegennehmen konnte.

Während eines Aufenthalts bei ihrer Cousine Lovedy Smith erlitt Dorothy Garrod am 30. Juni 1968 einen Schlaganfall. Im September 1968 zog sie nach Cambridge, wo sie von vielen Freunden besucht wurde. Am 18. Dezember 1968 starb Dorothy Garrod nach langer Krankheit im Alter von 76 Jahren im „Hope House Nursing Home“ in Cambridge.

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